Von digitalen Stöberern und lokalen Hoppern
Eine Kernherausforderung des Fachhandels ist es, sich gegen die heutige Online-Konkurrenz zu behaupten. Aus der Wahrnehmung des Fachhandels heraus, gelten die 'Jungen Digitalen’ als die üblichen Verdächtigen, die längst an den E-Commerce verloren gingen. Diese wollten möglichst „convenient“, schnell und günstig einkaufen. Immer den neusten Trend im Auge, ist das Internet ihr zweites Zuhause und ihre Erwartung an ein Konsumerlebnis hoch. So hört man es stets unisono. Und wer kauft noch vor Ort? Auf jeden Fall die loyalen ‚Senioren‘! Diese haben viel Zeit und besuchen zwangsläufig das Geschäft vor Ort, da weniger mobil und hilflos gegenüber der neuen, unverständlichen, digitalen Welt. Die Angst des stationären Handels ist groß, denn die Verweildauer dieser Zielgruppe in unserer Welt ist endlich. Aber ist es wirklich so? Oder leiten diese stereotypen Bilder viele Unternehmen in ihren Entscheidungen fehl und verhindern womöglich Serviceinnovationen?
Das User-Research Design
In zweistündigen kontextuellen Tiefeninterviews mit 18 Interviewpartnern haben wir Onlinekauf-Szenarien erforscht und das „gefühlte“ Wissen der Expert*innen überprüft. Wir haben einen tiefen Einblick in den ganz persönlichen Kontext von Kund*innen, ihre Gedanken und Bedürfnisse bekommen.
Die Insights haben wir in einer anschließenden Online Umfrage mit einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobengröße von N=1000 quantifiziert und validiert.
Lokale Hopper (20–50 Jahre)
„Onlinekauf ist wesentlich unpraktischer als es sein Ruf verspricht.“, kritisiert Anna, unsere 37-jährige Interviewpartnerin und Mutter von zwei Kindern. Ihre höchste Priorität sei „Effizienz“. „Dieses Durchforsten vieler Online-Shops mit endlosen Produktlisten und am Ende muss ich noch ein Profil anlegen. Da springe ich eher mal auf dem Weg in ein Geschäft. Das geht schneller und ich weiß, was ich bekomme.“ Zu schätzen weiß sie, dass sie die Ware direkt mit nach Hause nehmen kann und die Lieferzeiten von durchschnittlich 3-5 Tage vermeiden kann. Viele Interviewpartner berichteten auch von verpassten Lieferungen. „Wenn ich in den Paketshop rennen muss, kann ich auch gleich ins Geschäft.“ Mangelnde Datensicherheit, überlaufende Papiermülltonnen, Versandkosten und Retouren-Wahnsinn sind weitere Argumente gegen den Online-Kauf.
Unsere Erkenntnis: Gerade von der jungen, berufstätigen Zielgruppe wird der Onlinekauf als nicht besonders effizient und praktisch empfunden. Natürlich kaufen auch sie online, aber eher vorausschauend, in größeren Mengen (über fünf Produkte) in sogenannten Quartalseinkäufen oder Waren von höherem Wert (z. B. Elektronik), weniger jedoch ein einzelnes Produkt für den alltäglichen Bedarf.
Digitale Stöberer (50–80 Jahre)
„Online kann ich ganz in Ruhe stöbern und vergleichen“, berichtet uns Udo. Er ist pensionierter Volkswirt – begrenzte Rente, viel Zeit. Er berichtet, dass er die ausführlichen Produktbeschreibungen und Online-Kundenbewertungen sehr schätzt. Ihm geht es in den Geschäften viel zu hektisch zu, da fühlt er sich oft „im Weg“. Er könne sich „unabhängiger entscheiden“, wenn er in Ruhe die Kundenrezessionen durchliest. Stellt das Digitale eine schwer überwindbare Hürde dar? Nein! „Ich fülle den Bestellschein analog aus und versende ihn per Post.“
Unsere Erkenntnis: Seniore Sparfüchse und Schnäppchenjäger haben ihren Weg gefunden, sich im World Wide Web ihre ganz eigenen Pfade zu trampeln.
Die gewonnen Erkenntnisse haben wir in einem Zielgruppen-Profil, Personas, zusammengeführt, die als Basis für die Entwicklung von neuartigen (Online-)Services und -Produkten dienten.
Lokale Hopper (20-50 Jahre) | Digitale Stöberer (50-80 Jahre) | |
Beschreibung |
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Meinung zum Online Shopping |
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Fazit | Onlinekauf finden die jüngeren Generationen z. T. wenig komfortabel und zeitraubender als „einfach mal ins Geschäft zu springen“. Erst ab einem gewissen Maß sind Ersparnisse für sie ein ausschlaggebendes Argument für den Online-Einkauf. | The older generation often consider online shopping to be more relaxed than having to go to the shops. Browsing online and researching in peace from home is an enjoyable activity for them. They are tempted by savings. |
Den akuten Bedarf, einen Artikel zur direkten Verwendung online zu kaufen, hält keine der Generationen für realistisch. |
Tabelle: „Hintergründe von Online Kaufverhalten im Fachhandel“
Synthese
Im Service Design haben wir Service Blue Prints verwendet, um die Prozesse des Anbieters mit der Experience der Nutzer darzustellen. So haben wir sichergestellt, dass das Service Angebot und die Service Experience wirklich aufeinander abgestimmt sind. .
Die Ergebnisse der Feldforschung sorgte für die ein oder andere Überraschung. ‚In Ruhe stöbern können‘ hatten wir bisher eher mit einem städtischen Einkaufsbummel und nicht mit Online-Shopping in Verbindung gebracht Diese und andere Insights haben dafür gesorgt, dass wir Barrieren und Pain-Points als Opportunitätsfelder für Optimierungen identifizieren konnten.
Wer sich also die Mühe macht, hinter die Fassade von stereotypen Annahmen zu schauen, hat die Chance seine Services (online oder offline) in der User Journey zu optimieren und zu orchestrieren. Es geht nicht um eine Entscheidung für oder gegen online, sondern um eine Verbindung aller Kanäle, um eine optimale User Experience zu gestalten.
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nicole.reinhold@cocomore.com und miriam.schmalen@cocomore.com
Nicole Reinhold ist seit Anfang 2018 als Senior Service Designerin bei der Digitalagentur Cocomore tätig. Sie bringt über 15 Jahre Erfahrung in den Bereichen Forschung & Entwicklung (Daimler), E-Business (Philips Consumer Electronics NL), Design Thinking und human-centred Innovation (Philips Design) und Start-centric Innovation (Innogy Innovation Hub) mit. Studiert hat Nicole Reinhold Sozialwissenschaften in Bremen und Frankfurt